Was macht der (feine) Herr Ingenieur da an der Drehbank?
Berichten von Zeitzeugen zufolge gab es einmal eine Zeit in der in Industrieunternehmen Ingenieure ehrfurchtsvoll mit „Herr Ingenieur“ angesprochen wurden und in Kitteln durch die Produktion schritten. Diese Zeiten sind (glücklicherweise) lange vorbei, doch versetzen wir uns für den Punkt den ich machen will noch einmal in diese Zeit zurück. Stellen wir uns vor, wie dieser privilegierte und hochangesehene Mensch (zu dieser Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Mann) an der Drehmaschine steht und selbst ein Teil herstellt. Das wäre schon damals undenkbar gewesen – und auch heute ist es unwahrscheinlich dieses Bild zu sehen zu bekommen. Ich möchte kurz ausführen, warum das ein Missstand ist und abgestellt gehört – zumindest im Bereich der Produktentwicklung. Und es beschränkt sich nicht auf die Drehbank, sondern dehnt sich meiner (unmaßgeblichen) Meinung nach auch auf andere subtraktive Fertigungsverfahren und die additiven Fertigungsverfahren aus.
Warum sollte ein Produktentwicklungsingenieur fähig sein Bauteile durch Drehen, Fräsen oder 3D-Druck herzustellen? Dafür gibt es zwei gute Gründe:
- Wer weiß wie Fertigungsverfahren funktionieren und wo ihre Einschränkungen und Grenzen liegen und diese erfahren hat, statt nur davon gehört und gelesen zu haben, wird bessere Bauteile und Produktkomponenten designen, die leichter und / oder günstiger hergestellt werden können, oder deren Komplexität geringer ausfällt und dadurch zu besseren, robusteren Produkten führen.
- Eine Idee direkt umsetzen und durch stoffliche Umsetzung greifbar und erfahrbar machen zu können, ist ein unschätzbarer Vorteil bei der iterativen Produktentwicklung. Man kann die Idee direkt bewerten, im positiven Sinne kritisieren und eine weitere Iteration anfertigen, die die eventuell noch vorhandenen Nachteile ausräumt. Wenn man dafür erst bei einem Lohnfertiger anfragen, beauftragen, die „Leadtime“ abwarten muss, verliert man viel Agilität, die in der heutigen schnelllebigen Zeit einen enormen Wettbewerbsvorteil darstellt.
Es ist wahr, dass ein Ingenieur mehr Geld pro Zeiteinheit kostet als ein Zerspanungsmechaniker, doch sollte man berücksichtigen, dass es in diesem Stadium kaum Reibungsverluste zwischen der Idee und der Umsetzung geben wird, wenn die beiden Themen in Personalunion erledigt werden, außerdem ergibt sich der angesprochene zeitliche Vorsprung. Zusätzlich geht es vielen Firmen wie uns: Wir haben für einen Zerspanungsmechaniker in Vollzeit einfach nicht genug zu tun – man kann / sollte den Menschen ja nicht in den Schrank stellen, wenn man ihn nicht braucht.
Mein Plädoyer lautet also: Gebt euren Entwicklungsabteilungen Maschinen zur freien Verfügung (nicht mit buchbaren Zeit-Slots an Maschinen aus dem Fertigungs-Maschinenpark). Das müssen keine hochpreisigen Maschinen für den Dreischichtbetrieb sein, es reichen bessere China-Import-Maschinen oder aus der Produktion ausgemusterte Maschinen die wieder instandgesetzt wurden. Wichtig ist, dass die Maschinen direkt in dem Moment in dem die Idee oder der Bedarf aufkommt, verfügbar sind.
Welche Maschinen sollten das sein?
– FDM-3D-Drucker
Diese Technologie ist im Consumer-Bereich günstig zu erwerben und haben nach je nach Produkt wenig bis keine Nachteile gegenüber den industriellen 3D-Druckern – vor allem wenn man damit nur dann und wann Prototypen drucken will und nicht Serie gehen…
– Drehbank
Zum Einen ist die Drehbank nützlich dafür 3D-gedruckte Teile präzise auf Maß zu bringen, zum Anderen kann man mit ihr auch Teile aus massivem Kunststoff, NE-Metallen, Eisen und je nach Qualität der Maschine auch Stahl oder Edelstahl herstellen.
– Fräsmaschine
Nicht alle Teile sind kreisrund – manchmal muss auch etwas eckiges her, oder man braucht am runden Teil einen Vier- oder Sechskant. Dann ist es immer gut eine Fräsmaschine parat zu haben. Was die Materialauswahl angeht ist man hier ähnlich aufgestellt wie bei der Drehbank, für Stahl oder Edelstahl braucht es aber eine eher höherwertige Maschine.
Was hat uns das in der Vergangenheit gebracht?
- wir haben für den Teststand oder Testaufbauten / Prototypen schnell und unkompliziert Adapter fertigen können, die es so nicht am Markt zu kaufen gab, oder die lange Lieferzeiten gehabt hätten.
- es sind Prototypen-Teile entstanden, die bereits am nächsten Tag validiert werden konnten – im klassischen Workflow hätten wir so noch mindestens 4 weitere Werktage auf das Angebot des Lohnfertigers warten und uns weitere Wochen gedulden müssen, bis unser Auftrag in dessen Auftragssystem nach oben geschwemmt wird.
- Durch ein besseres Verständnis der Fertigungsverfahren kommt es kaum noch dazu, dass die Geometrie der Teile an die Fertigbarkeit angepasst werden muss – auch wenn die Teile fremdgefertigt werden müssen/sollen (z.B. wegen höherer Stückzahlen).